Was macht das Leben lebenswert?

Philip Moons
(© Universität Leuven)

Der Belgier Prof. Philip Moons ist einer der führenden Wissenschaftler zum Thema Lebensqualität. In zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln hat er sich auch mit der Beziehung zwischen Lebensqualität und angeborenen Herzfehlern auseinandergesetzt. Mit uns sprach er über die Schwierigkeit einer Definition von Lebensqualität, den Zusammenhang von Lebensqualität und Bildung und warum Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern tendenziell eine höhere Lebensqualität haben als die gesunde Durchschnittsbevölkerung.

Herr Professor Moons, was genau bedeutet Lebensqualität eigentlich?

Es gibt eine Menge Definitionen! Und die hängen immer von der begrifflichen Herangehensweise des jeweiligen Wissenschaftlers ab. Wenn Sie zum Beispiel Lebensqualität vor allem als Gesundheitszustand betrachten, wird sich diese Einstellung auch in Ihrer Definition widerspiegeln. Ich selbst verstehe darunter die Zufriedenheit mit dem Leben und habe dementsprechend eine wissenschaftliche Definition formuliert, die das auch zum Ausdruck bringt. Ich kann zwar nicht behaupten, dass meine Definition die beste sei, aber darüber muss man eben diskutieren.

Und wie lautet Ihre Definition?

Lebensqualität ist das Ausmaß der allgemeinen Lebenszufriedenheit, das positiv oder negativ durch die Wahrnehmung spezifischer Aspekte, die Personen wichtig sind, beeinflusst wird; diese beinhalten mit Gesundheit zusammenhängende sowie nicht mit Gesundheit zusammenhängende Dinge.

Aber ist es nicht problematisch, wenn sich Wissenschaftler bei der Definition nicht einig sind?

Ich glaube sogar, dass sich die wissenschaftliche Gemeinschaft darüber niemals einig sein wird. Aber ist das überhaupt so wichtig? Natürlich ist ein Konsens bei einigen Maßeinheiten nötig. Wenn sich beispielsweise mein Meter von Ihrem Meter unterscheidet, können wir wohl kaum miteinander kommunizieren, weil es uns unmöglich sein wird, Strecken zu vergleichen. Wir müssen uns also zumindest darauf einigen, dass wir uns bei der Definition nicht einig sind. In Bezug auf die Definition von Lebensqualität bedeutet dies, dass es vor allem wichtig ist, zu wissen, was der andere mit dem Begriff Lebensqualität eigentlich meint.

Lässt sich Lebensqualität wenigstens irgendwie bemessen?

Auch darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Es besteht keine Einigkeit unter Wissenschaftlern, was die Konzeptualisierung von Lebensqualität betrifft, das heißt, wir haben unterschiedliche Herangehensweisen an den Begriff. Die Methode hängt auch hier wieder von Ihrem Ansatz ab. Sie sehen, es ist ein komplexes Thema.

Was ist Ihr Ansatz?

Allgemein akzeptiert ist, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand und Lebensqualität gibt – aber beide sind nicht dasselbe. Ein weiterer Ansatz konzentriert sich auf das Glücksempfinden. Wir wissen, dass es einen Zusammenhang zwischen Glücksempfinden und Lebensqualität gibt, aber Glücksempfinden ist ein kurzzeitiges Gefühl, das sich jede Minute ändern kann. Natürlich kann sich Lebensqualität auch verändern, aber sie ist dennoch viel stabiler als das Glücksempfinden. Meiner Meinung nach ist die Zufriedenheit mit dem Leben auch der beste Ansatz, um Lebensqualität zu messen, eben weil sie so viele Aspekte enthält. Bittet man Personen, über ihre Zufriedenheit mit dem Leben nachzudenken, bringt man sie dazu, das Leben, das sie bis jetzt gelebt haben, zu überdenken und sie können so eine Gesamteinschätzung ihres Lebens abgeben.

SEIQoL-DW ist ein Instrument, das entwickelt wurde, um die individuelle Lebensqualität zu messen. Durch seine Anwendung umgeht man das Problem vorbestimmter Fragen, die voraussetzen, dass die Lebensqualität jedes Einzelnen von den gleichen Faktoren beeinflusst wird. Sie haben als erster SEIQoL-DW bei Patienten mit angeborenen Herzfehlern benutzt. Wie gut hat das funktioniert?

Sehr gut! Neben SEIQoL-DW verwendeten wir auch verschiedene Instrumente mit vordefinierten Fragen. Durch den individuellen Ansatz erhielten wir jedoch Angaben, die wir mit vordefinierten Fragebögen nie bekommen hätten. Wenn zum Beispiel eine Patientin sagt, dass ihr Hund das Allerwichtigste für sie sei, kann diese Antwort in einem vordefinierten Fragebogen gar nicht mit aufgenommen werden. Also, ich kannte vorher noch kein Instrument, das Haustiere berücksichtigt.

Im klinischen Alltag gibt es zwei Gruppen von Instrumenten zur Messung der Lebensqualität: vordefinierte Fragebögen und individuell ausgerichtete Instrumente wie z. B. SEIQoL-DW. Was ist das Problem bei vordefinierten Fragebögen?

Gegenfrage: Messen wir die Lebensqualität selbst oder die Faktoren, die für diese von Bedeutung sind? Ist die Fähigkeit, drei Häuserblocks weit zu gehen, eine Messgröße für Lebensqualität oder für den Funktionsstatus? Ist die Tatsache, dass jemand Freunde und ein gutes soziales Netzwerk hat, ein Anzeichen für Lebensqualität oder nur ein Aspekt davon? Eine Messung dieses Begriffs mit vordefinierten Fragen kann immer nur sehr kurz ausfallen und auch nur wenige Faktoren berücksichtigen. Wenn es also um tiefer gehende Informationen geht, ziehe ich SEIQoL-DW vor.

Lässt sich damit denn auch die Lebensqualität bei Kindern messen?

Die Lebensqualität bei Kindern zu messen, ist schwer, wenn nicht sogar unmöglich. Um Fragen bezüglich der Lebensqualität beantworten zu können, bedarf es eines gewissen Abstraktionsvermögens, das Kinder schlicht noch nicht haben.

Aber lassen sich die Erfahrungen der Eltern nicht auf Kinder übertragen?


Manche Aspekte sind vielleicht ähnlich, zum Beispiel wie man lernt, eine Krankheit in das eigene Leben zu integrieren. Dennoch scheint dieser Aspekt für Eltern schwieriger zu sein als für die Kinder. Natürlich kennen die Eltern ihre Kinder gut und könnten für diese antworten, aber das ist eben nicht dasselbe. In den meisten Fällen würden uns solche Antworten wohl eher Aufschluss über die Lebensqualität der Eltern geben.

Gibt es eine Beziehung zwischen übervorsichtigen Eltern in der Kindheit und der Lebensqualität im Erwachsenenalter?

Es gibt einen Effekt, aber unsere Forschungen zeigen bisher nicht, in welchem Ausmaß. In Tiefeninterviews haben erwachsene Patienten über ihre Kindheit mit einem angeborenen Herzfehler gesprochen. Diejenigen, die in der Kindheit ständig von allem abgeschirmt wurden und ihren Herzfehler verleugneten, sind damit erst in einem späteren Alter umso heftiger konfrontiert worden. Andere Patienten dagegen, die sich schon in jungen Jahren mit ihrem Herzfehler auseinander gesetzt haben und die zum Beispiel – wenn auch in ihrem eigenen Tempo – genauso wie ein gesundes Geschwisterkind den Rasen mähen mussten, haben besser gelernt, mit ihrer Krankheit zurechtzukommen. Diese Patienten konnten ihre Krankheit erfolgreicher in ihr Alltagsleben integrieren.

Apropos Erfolg: Welches sind die wichtigsten Einflussgrößen, um die Lebensqualität einer Person zu messen?

Gemäß unseren Studien steht bei 80 Prozent der Teilnehmer Familie ganz oben auf der Prioritätenliste. In der restlichen Top-5-Liste folgen dann noch Beruf und Ausbildung, Freunde, Gesundheit und Freizeit. Wie Sie sehen, kommt Gesundheit erst an vierter Stelle. 60 Prozent der Teilnehmer nahmen diese in ihre Prioritätenliste mit auf; was bedeutet, dass Gesundheit für 40 Prozent kein zentrales Thema ist. Das erklärt auch, warum der Begriff „Gesundheitsbezogene Lebensqualität“ nicht immer passend ist: Er betont die Bedeutung von Gesundheit zu stark.

Hat denn das Bildungsniveau einen Einfluss auf die Lebensqualität?

Ja, allerdings. Zufällig haben wir zu diesem Zusammenhang sehr aktuelle Daten, die wir bisher noch nicht veröffentlicht haben. In unserer Studie dazu haben wir die Patienten in drei Gruppen eingeteilt: diejenigen mit guter, mittelmäßiger und schlechter Lebensqualität. Dann suchten wir nach Unterschieden zwischen diesen Gruppen. Das Ausbildungsniveau in den drei Gruppen unterschied sich dahingehend, dass in der Gruppe mit guter Lebensqualität ein durchschnittlich höheres Bildungsniveau vorhanden war als in der Gruppe mit schlechter Lebensqualität.

Haben dementsprechend Patienten mit angeborenem Herzfehler, die studieren oder arbeiten, eine bessere Lebensqualität als jene, die nicht in der Lage sind, zu arbeiten bzw. arbeitslos sind?

So ist es. In der eben erwähnten Studie suchten wir nach einem Zusammenhang zwischen Lebensqualität und der Stellung im Erwerbsleben. Unabhängig von der Art der Arbeit, haben Personen, die arbeiten, mit größerer Wahrscheinlichkeit eine bessere Lebensqualität als jene, die nicht arbeiten können.

Wie beeinflusst eine nicht sichtbare Behinderung wie ein angeborener Herzfehler die Lebensqualität?

Ich glaube, dass andere Aspekte wichtiger sind als dieser Faktor. Eine kanadische Gruppe hat das, was wir „Behinderungs-Paradox“ nennen, untersucht und war überrascht, dass Patienten mit einem schlechten Gesundheitszustand trotzdem eine gute Lebensqualität angaben. Daraufhin wurde genauer untersucht, welche Faktoren, zu einer guten oder schlechten Lebensqualität beitragen. Der Hauptfaktor für eine gute Lebensqualität war die Fähigkeit, sich die Kontrolle über den Körper, den Geist und das Leben zu bewahren. Die Patienten waren damit zufrieden, sich selbst mit anderen in einer ähnlichen Situation zu vergleichen. Hinsichtlich der eigenen Lebensqualität als schlimmste Faktoren bewertet wurde daher, Schmerzen zu haben, unter häufigen Erschöpfungszuständen zu leiden und die Kontrolle über Körperfunktionen zu verlieren. Das wiederum sind Faktoren, die Patienten mit angeborenen Herzfehlern selten erleben.

Entsprach die Lebensqualität von Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern eigentlich ihren Erwartungen?

Ich hatte erwartet, dass die Lebensqualität von Herzkranken nicht schlechter ist als in der gesünderen Gesamtbevölkerung. Wir fanden jedoch heraus, dass sie sogar besser ist! Vielleicht lässt sich dieses Ergebnis mit ihrer Reife oder dem Behinderungs-Paradox erklären. Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern haben eben gelernt, mit ihrer Krankheit umzugehen!

Neigen Patienten mit angeborenen Herzfehlern denn generell dazu, reifer und reflektierter zu sein als andere Menschen in ihrem Alter?

Bisher gibt es hierzu noch keine Daten. Mit dem „Kohärenzgefühl“-Ansatz können wir untersuchen, wie solche Patienten auf ihr Leben blicken und haben auch schon eine Hypothese zu der Frage, warum erwachsene Patienten eine bessere Lebensqualität haben als die Durchschnittsbevölkerung: Sie wissen, worum es im Leben geht! Ich hoffe, ich werde diesen Gedanken zukünftig noch weiter verfolgen können. Aber es kann noch Jahre dauern, um diese Hypothese zu bestätigen.

Das Interview führte Marit Haugdahl.

Autor(en): Marit Haugdahl
Letzte Aktualisierung: 2008-09-24